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Atemzug

Der Anruf erreichte mich gegen sechs Uhr in der Frühe. Ich war mitten im tiefsten Schlaf, dennoch hörte ich den schrillen Ton des Telefons. Es riss mich aus meiner bunten Traumwelt zurück in die kalte und triste Realität. Sofort als ich die Stimme vernahm, wusste ich es. Unausweichlich, unvermeidbar. Es war soweit.
Eigentlich hatte ich es immer in meinem Hinterkopf, hatte es nur verdrängt, in eine dunkle und unergründliche Ecke meines Verstandes geschoben. Ließ es überlagern von den freudigen Ereignissen des Lebens. Doch nur ein kurzer Anruf, das erste Wort aus ihrem Mund genügte, damit der Gedanke an das Unausweichliche unaufhaltsam die Mauer des Vergessens durchbrach.
Ich hetzte ins Bad, streifte mir notdürftig meine Kleider über und rannte die Treppen hinunter zu meinem Wagen.
Es regnete und das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in Pfützen und auf der nassen Straße. Ich startete den Motor.
Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war Zwanzig nach Sechs. Hoffentlich würde ich es noch rechtzeitig schaffen.
Die Straßen waren frei. Ich kam gut voran. Bald schon bog ich auf die Autobahn ab. Mein Blick streifte den Tacho. 150 km/h. Sie hatte es immer gehasst, wenn ich raste.
„Fahr langsam, pass auf! hatte sie immer gesagt. Überhaupt liebte sie, wenn es gemütlich zuging. Deshalb fuhr ich mit ihr meist über die Landstraßen. Sie blickte aus dem Fenster und immer, wenn ihr Blick etwas Sehenswertes erhaschte, eine schöne Blumenwiese, eine wundervolle Kirche, einen hübschen Fleck, dann bat sie mich den Wagen anzuhalten. Fast so, als ob es um uns herum überhaupt nichts anderes gab, als nur den Augenblick.
Nur in der letzten Zeit wurden die Ausfahrten immer weniger. Ihr ging es nicht so gut. Sie ahnte wohl schon, was kommen würde.
Ich blickte auf die Uhr. Kurz vor Sieben. Noch hundert Kilometer lagen vor mir. Der Verkehr nahm zu. Unzählige Lastwagen schlängelten sich auf der rechten Spur den Berg hinauf. Sie schienen wie Schnecken zu kriechen.
Ich weiß, sie hätte es gerne gehabt, wenn ich bei ihr geblieben wäre. Aber es war nun einmal nicht möglich. Wo hätte ich als Informatiker schon arbeiten können. Hagedorf war nun einmal nicht der Nabel der Welt.
Sie hätte es gerne gehabt, wenn ich etwas Handwerkliches gelernt hätte. Zimmermann, so wie Vater, oder Bäcker, so wie Onkel Hugo. Doch ich wollte ja nicht hören. Ich musste ja unbedingt studieren. Computertechnik. Von Computern hielt sie nicht viel.
„Den ganzen Tag sitzt du vor einem kleinen Fernseher und tippst Buchstaben und Zahlen in einen kleinen grauen Kasten. Ich weiß nicht, wozu das taugen soll. Außer dass du dir die Augen ruinierst, hatte sie mir einmal gesagt.
Und heute, heute funktionierte nichts mehr ohne diese kleinen grauen Kästen. Aber was war schon Zeit und Fortschritt in ihren Augen.
Damals, als ich noch etwas erreichen wollte, hing ein Spruch in meinem Zimmer, direkt über dem Klassenfoto der Abschlussklasse.
„Stillstand ist Rückschritt, stand darauf in großen roten Lettern geschrieben. Einer dieser Spontisprüche aus der Studienzeit. Ziele haben, Ziele definieren. Einen Ansporn haben, etwas erreichen wollen, darum ging es uns.
Als sie den Spruch las, schüttelte sie nur den Kopf.
„Und wann kann man den Augenblick genießen, wenn man immer nur vorwärts geht? Wann ruht man sich aus vor all der Hast? Wann kann man Atem holen. Einen kleinen Atemzug und sich an dem erfreuen, was man erreicht hat? fragte sie lächelnd.
Damals dachte ich nur, was weißt du schon vom Leben. Doch mittlerweile weiß ich, dass sie Recht hatte.
Immer nur vorwärts blicken, eilen, hasten, keine Zeit mehr haben. Wofür?
Ist das Leben nicht mehr als eine ständige Suche nach neuen Erfüllungen.
Als sich damals Marion von mir trennte, ging ich zu ihr, um zu reden, um all meinen Schmerz hinauszuschreien. Sie verstand mich. Sie war meine Freundin in guten und in schlechten Tagen.
Als Vater damals starb, waren wir alle betroffen, doch am meisten tat es mir für sie leid. Alleine in dem großen Haus. Niemand mehr, den sie umsorgen konnte, für den sie kochen, waschen und putzen konnte. Doch sie war es, die damals sagte: „Lebt euer Leben, ich bin schon alt und habe meine Zeit auf dieser Erde gehabt. Ich will nur, dass ihr mich besucht und mir von euch erzählt. Ich komme schon klar.
Dennoch fuhr ich mit einem schlechten Gewissen zurück in die Stadt. Hatte sie nicht all ihre Zeit für uns, für die Kinder geopfert und nun, wo sie etwas von unserer Zeit verdient hatte, verließen wir sie, ließen sie alleine - ließen sie im Stich     ...
Ein Wagen scherte vor mir aus und riss mich aus meinen Gedanken. Ich bremste scharf. Dann fiel mein Blick auf den Wegweiser. Ich war kurz vor meinem Ziel.
An der nächsten Ausfahrt fuhr ich von der Autobahn ab. Noch drei Kilometer.
Mein Herz pochte bis zum Hals, ich spürte ein Kribbeln im Bauch. Hoffentlich würde ich es noch rechtzeitig schaffen. Ich machte mir Vorwürfe. Jeder hatte gewusst, wie es um sie stand. Warum war ich nicht bei ihr geblieben?
Ich hätte Urlaub nehmen können. Aber dieses verdammte Projekt ... ich wollte es endlich zu Ende bringen. Doch war es das wert? Hatte sie nicht auch schon oft genug Zeit für mich geopfert, Zeit mit der sie mehr hätte anfangen können.
Als ich vor dem Haus parkte, blickte ich auf die Uhr. Zehn Minuten nach Acht.
Als ich die Haustüre aufschloss, lief ein Schauer über meinen Rücken. Ich hastete die Treppen hinauf und stürzte ins Schlafzimmer.
Da lag sie in ihrem Bett. Die grauen Haare hingen ihr in das schweißverklebte Gesicht. Ihr Augen blickten verklärt zur Decke. Ich ging zu ihr uns setzte mich auf die Bettkante.
Alle waren sie gekommen. Schiefers, der Hausarzt, Monika und Hellmut, Birgit und Hans, doch ich hatte keine Augen für sie. Sanft streichelte ich ihr über die Stirn.
„Hallo Mutter, ich bin hier, sagte ich sanft zu ihr.
Sie wandte den Kopf. Ein Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. Sie griff nach meiner Hand, dann  nahm sie noch einen tiefen Atemzug. Ein letzten Atemzug, bevor sie friedlich einschlief. Ihr Körper entspannte sich.
Tränen schossen mir in die Augen.
Das war vor genau einem Jahr. Und wenn ich heute daran denke, dann weiß ich genau, sie hat auf mich gewartet. Gewartet bis zum letzten Atemzug.

... und noch etwas weiß ich seit dieser Zeit: Stillstand ist Frieden.


Ulrich K. Hefner